Erste Strophe
Marleys Geist
Marley war tot, damit wollen wir anfangen. Kein Zweifel kann darüber bestehen. Der Schein über seine Beerdigung ward unterschrieben von dem Geistlichen, dem Küster, dem Leichenbestatter und den vornehmsten Betroffenen. Scrooge hatte ihn unterschrieben, und Scrooges Name wurde auf der Börse respektiert, wo er ihn nur hinschrieb. Der alte Marley war so tot wie ein Türnagel.
Versteht mich recht! Ich will nicht etwa sagen, dass ein Türnagel etwas besonders Totes für mich hätte. Ich selbst möchte fast zu der Meinung neigen, dass das toteste Stück Eisen auf der Welt ein Sargnagel sei. Aber die Weisheit unserer Altvorderen liegt in den Gleichnissen, und meine unheiligen Hände sollen sie dort nicht stören, sonst wäre es um das Vaterland geschehen. Man wird mir also erlauben, mit besonderem Nachdruck zu wiederholen, dass Marley so tot wie ein Türnagel war.
Wusste Scrooge, dass er tot war? Natürlich wusste er es. Wie sollte es auch anders sein? Scrooge und er waren, ich weiß nicht seit wie vielen Jahren, Kompagnons. Scrooge war sein einziger Testamentsvollstrecker, sein einziger Verwalter, sein einziger Erbe, sein einziger Freund und sein einziger Leidtragender. Und selbst Scrooge war von dem traurigen Ereignis nicht so schrecklich mitgenommen, um nicht selbst am Begräbnistag ein vortrefflicher Geschäftsmann sein und ihn mit einem unzweifelhaft guten Handel feiern zu können.
Nun bringt mich die Erwähnung von Marleys Begräbnistag wieder zum Ausgangspunkt meiner Erzählung zurück. Es gibt keinen Zweifel, dass Marley tot war. Das muss unbedingt im Auge behalten werden, sonst kann in der Geschichte, die ich erzählen will, nichts Wunderbares geschehen. Wenn wir nicht vollkommen fest überzeugt wären, dass Hamlets Vater tot ist, ehe das Stück beginnt, so wäre durchaus nichts Merkwürdiges in seinem nächtlichen Spaziergang bei scharfem Ostwind auf den Mauern seines eigenen Schlosses. Nicht mehr, als bei jedem anderen Herrn in mittleren Jahren, der sich nach Sonnenuntergang rasch zu einem Spaziergang auf einem luftigen Platz entschließt, zum Beispiel auf dem Sankt-Pauls-Kirchhof.
Scrooge ließ Marleys Namen nicht ausstreichen. Noch nach Jahren stand über der Tür des Speichers »Scrooge und Marley«. Die Firma war unter dem Namen Scrooge und Marley bekannt. Leute, die Scrooge nicht kannten, nannten ihn zuweilen Scrooge und zuweilen Marley; aber er hörte auf beide Namen, denn es galten ihm beide gleich.
Gierig, geizig und eiskalt
Oh, er war ein wahrer Blutsauger, dieser Scrooge! Ein gieriger, zusammenkratzender, festhaltender, geiziger alter Sünder: hart und scharf wie ein Kiesel, aus dem noch kein Stahl einen warmen Funken geschlagen hat, verschlossen und selbstgenügsam und ganz für sich, wie eine Auster. Die Kälte in seinem Herzen machte seine alten Gesichtszüge starr, seine spitze Nase noch spitzer, sein Gesicht runzlig, seinen Gang steif, seine Augen rot, seine dünnen Lippen blau, und sie klang aus seiner krächzenden Stimme heraus. Ein frostiger Reif lag auf seinem Haupt, auf seinen Augenbrauen, auf dem starken struppigen Bart. Er schleppte seine eigene niedere Temperatur immer mit sich herum: In den Hundstagen kühlte er sein Kontor wie mit Eis, zur Weihnachtszeit machte er es nicht um einen Grad molliger.
Äußere Hitze und Kälte wirkten wenig auf Scrooge. Keine Wärme konnte ihn wärmen, keine Kälte frösteln machen. Kein Wind war schneidender als er, kein Schneegestöber erbarmungsloser, kein klatschender Regen einer Bitte weniger zugänglich. Schlechtes Wetter konnte ihm nichts anhaben. Der ärgste Regen, Schnee oder Hagel konnten sich nur auf eine Art rühmen, besser zu sein als er: Sie gaben oft im Überfluss, Scrooge dagegen tat das nie und nimmer.
Niemals kam ihm jemand auf der Straße entgegen, um mit freundlichen Blicken zu ihm zu sagen: »Mein lieber Scrooge, wie geht’s, wann werden Sie mich einmal besuchen?« Kein Bettler sprach ihn um eine Kleinigkeit an, kein Kind fragte ihn, wie spät es sei, kein Mann und keine Frau hat ihn je in seinem Leben nach dem Weg gefragt. Selbst der Hund des Blinden schien ihn zu kennen, und wenn er ihn kommen sah, zog er seinen Herrn in einen Torweg und wedelte dann mit dem Schwanz, als wollte er sagen: »Gar kein Auge, blinder Herr, ist besser als ein böses Auge.«
Doch was kümmerte all das den alten Scrooge? Gerade so war es ihm am liebsten. Allein seinen Weg durch die engen Pfade des Lebens zu wandern, jedem menschlichen Gefühl zu sagen: »Bleibe mir fern«; das war es, was Scrooge gefiel.
Einmal, am Christabend
Einmal, es war von allen guten Tagen im Jahr der beste, der Christabend, saß der alte Scrooge in seinem Kontor. Draußen war es schneidend kalt und neblig, und er konnte hören, wie die Leute im Hof, um sich zu erwärmen, prustend auf und ab gingen, die Hände aneinander schlugen und mit den Füßen stampften. Es hatte eben erst drei Uhr geschlagen, doch war es schon stockfinster. Den ganzen Tag über war es nicht hell geworden, und die Kerzen in den Fenstern der benachbarten Kontore flackerten wie rote Flecken auf der dicken braunen Luft. Der Nebel drang durch jede Spalte und durch jedes Schlüsselloch und war draußen so dick, dass die gegenüberliegenden Häuser des sehr kleinen Hofes wie ihre eigenen Geister aussahen. Wenn man die trübe, dicke, alles verfinsternde Wolke herabsinken sah, hätte man meinen können, die Natur wohne dicht nebenan und braue en gros.
Die Tür zu Scrooges Kontor stand offen, damit er seinen Gehilfen beaufsichtigen konnte, der in einem erbärmlich feuchten, kleinen Raum, einer Art Burgverlies, Briefe kopierte. Scrooge hatte nur ein sehr kleines Feuer, aber des Dieners Feuer war um so viel kleiner, dass es nur wie eine einzige Kohle aussah. Er konnte aber nicht nachlegen, denn Scrooge hatte den Kohlenkasten in seinem Zimmer, und jedes Mal, wenn der Gehilfe mit der Kohlenschaufel in der Hand hereinkam, meinte sein Herr, es sei wohl nötig, dass sie sich trennten. Worauf der Gehilfe seinen weißen Schal umband und versuchte, sich an dem Licht zu wärmen, was aber immer fehlschlug, da er ein Mann von nicht sehr starker Einbildungskraft war.
»Fröhliche Weihnachten, Onkel, Gott erhalte Sie!« rief da eine heitere Stimme. Es war die Stimme von Scrooges Neffen, der so schnell hereingekommen war, dass dieser Gruß das erste war, was man von ihm bemerkte.
»Pah«, sagte Scrooge, »dummes Zeug!«
Weihnachten, dummes Zeug?
Dem Neffen war vom schnellen Laufen so warm geworden, dass er über und über glühte; sein Gesicht war rot und hübsch, seine Augen glänzten und sein Atem dampfte.
»Weihnachten dummes Zeug, Onkel?« sagte Scrooges Neffe. »Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»Es ist mein Ernst«, sagte Scrooge. »Fröhliche Weihnachten? Woher nimmst du das Recht, fröhlich zu sein? Was für einen Grund hast du für gute Laune? Du bist arm genug.«
»Nun«, antwortete der Neffe heiter, »was für ein Recht haben Sie, grämlich zu sein? Was für einen Grund, mürrisch zu sein? Sie sind reich genug.«
Scrooge, der im Augenblick keine bessere Antwort darauf bereit hatte, sagte noch einmal »pah!« und brummte hinterher »dummes Zeug!«
»Seien Sie nicht böse, Onkel«, sprach der Neffe.
»Was soll ich anderes sein«, antwortete der Onkel, »wenn ich in einer Welt voll solcher Narren lebe? Fröhliche Weihnachten! Der Henker hole die fröhlichen Weihnachten! Was ist Weihnachten für dich anderes, als eine Zeit, in der du Rechnungen bezahlen sollst, ohne Geld zu haben, eine Zeit, in der du dich um ein Jahr älter und nicht um eine Stunde reicher findest, eine Zeit, in der du deine Bücher abschließt und in jedem Posten durch ein volles Dutzend von Monaten hindurch ein Defizit siehst? Wenn es nach mir ginge«, setzte Scrooge heftig hinzu, »so müsste jeder Narr, der mit seinem ›Fröhliche Weihnachten‹ herumläuft, mit seinem eigenen Pudding gekocht und mit einem Stechpalmenzweig im Herzen begraben werden.«
»Onkel!« bat der Neffe.
»Neffe«, antwortete der Onkel erbost, »feiere du Weihnachten nach deiner Art und lass es mich nach meiner feiern.«
»Feiern!« wiederholte Scrooges Neffe. »Aber Sie feiern es ja nicht.«
»Lass mich ungeschoren«, brummte Scrooge. »Mag es dir Nutzen bringen. Es hat dir ja immer schon Nutzen gebracht.«
Zeit der Vergebung und Barmherzigkeit
»Es gibt viele Dinge, die mir hätten nützen können und die ich nicht genutzt habe, das weiß ich«, antwortete der Neffe, »und Weihnachten ist eins davon. Aber ich weiß gewiss, dass ich Weihnachten, abgesehen von der Verehrung, die wir seinem heiligen Namen und Ursprung schuldig sind, immer als eine gute Zeit betrachtet habe, als eine liebe Zeit, als die Zeit der Vergebung und Barmherzigkeit, als die einzige Zeit, die ich in dem ganzen langen Jahreskalender kenne, da die Menschen einträchtig ihre verschlossenen Herzen auftun und die andern Menschen ansehen, als wären sie wirklich Reisegefährten nach dem Grabe und nicht eine ganz andere Art von Geschöpfen, die einen ganz andern Weg gehen. Und daher, Onkel, wenn es mir auch niemals ein Stück Gold oder Silber in die Tasche gebracht hat, daher glaube ich doch, es hat mir Gutes getan, und es wird mir Gutes tun, und ich sage ›Gott segne das Weihnachtsfest!‹«
Der Diener in dem Burgverlies draußen applaudierte unwillkürlich; aber im Augenblick darauf fühlte er auch die Unschicklichkeit seines Betragens, schürte die Kohlen und löschte dadurch die letzten kleinen Funken unwiederbringlich.
»Wenn Sie da drin mich noch einen einzigen Laut hören lassen«, sagte Scrooge, »so feiern Sie Ihre Weihnachten mit dem Verlust Ihrer Stelle. – Du bist ein ganz gewaltiger Redner«, fügte er dann hinzu, sich zu seinem Neffen wendend. »Es wundert mich, dass du noch nicht ins Parlament gekommen bist!«
»Seien Sie nicht böse, Onkel. Essen Sie morgen mit uns.«
Scrooge sagte, dass er ihn erst verdammt sehen wolle; ja wahrhaftig, er sprach sich so deutlich aus.
»Aber warum?« rief Scrooges Neffe. »Warum denn?«
»Warum hast du dich verheiratet?« fragte Scrooge.
»Weil ich mich verliebt habe.«
»Weil er sich verliebt hat!« brummte Scrooge, als sei dies das einzige Ding in der Welt, das noch lächerlicher als eine fröhliche Weihnacht ist. »Guten Abend!«
Guten Abend!
»Aber Onkel, Sie haben mich ja auch vorher nie besucht. Warum soll es da ein Grund sein, mich jetzt nicht zu besuchen?«
»Guten Abend!« sagte Scrooge.
»Ich brauche nichts von Ihnen, ich verlange nichts von Ihnen, warum können wir nicht gute Freunde sein?«
»Guten Abend!« sagte Scrooge.
»Ich bedaure wirklich von Herzen, Sie so hartnäckig zu finden. Wir haben nie einen Zank miteinander gehabt, an dem ich schuld gewesen wäre. Aber ich habe den Versuch gemacht, Weihnachten zu Ehren, und ich will meine Weihnachtsstimmung bis zuletzt behalten. Fröhliche Weihnachten, Onkel!«
»Guten Abend!« sagte Scrooge.
»Und ein glückliches Neues Jahr!«
»Guten Abend!« sagte Scrooge.
Trotz allem verließ der Neffe das Zimmer ohne ein böses Wort. An der Haustür blieb er dann stehen, um mit dem Glückwunsch des Tages den Gehilfen zu begrüßen, der trotz der Kälte dennoch wärmer war als Scrooge, denn er gab den Gruß freundlich zurück.
»Das ist auch so ein Kerl!« brummte Scrooge, der es hörte. »Mein Gehilfe, mit fünfzehn Shilling die Woche und Frau und Kindern, spricht von fröhlichen Weihnachten. Ich gehe nach Bedlam ins Irrenhaus.«
Der Gehilfe hatte, als er den Neffen hinausließ, zwei andere Personen eingelassen. Es waren zwei behäbige, wohlansehnliche Herren, die jetzt, mit dem Hut in der Hand, in Scrooges Kontor standen. Sie hatten Bücher und Papiere unterm Arm und verbeugten sich.
»Scrooge und Marley, glaube ich«, sagte einer der Herren, indem er auf seine Liste sah. »Hab ich die Ehre, mit Mr. Scrooge oder mit Mr. Marley zu sprechen?«
»Mr. Marley ist seit sieben Jahren tot«, antwortete Scrooge. »Er starb heute vor sieben Jahren.«
»Wir zweifeln nicht, dass sein überlebender Kompagnon ganz seine Freigiebigkeit besitzt«, sagte der Herr, indem er ihm sein Beglaubigungsschreiben überreichte.
Er hatte ganz recht, denn sie waren wirklich zwei verwandte Seelen gewesen. Bei dem ominösen Wort Freigiebigkeit runzelte Scrooge allerdings die Stirn, schüttelte den Kopf und gab das Papier zurück.
»An diesem festlichen Tage des Jahres, Mr. Scrooge«, sagte der Herr, eine Feder ergreifend, »ist es mehr als sonst wünschenswert, wenigstens einigermaßen für die Armen zu sorgen, die zu dieser Zeit in großer Bedrängnis leben. Vielen Tausenden fehlen selbst die notwendigsten Bedürfnisse, Hunderttausenden die notdürftigsten Bequemlichkeiten des Lebens.«
»Gibt es keine Gefängnisse?« fragte Scrooge.
»Überfluss an Gefängnissen«, sagte der Herr, die Feder wieder hinlegend.
Gibt es denn keine Armenhäuser?
»Und die Armenhäuser?« fragte Scrooge. »Bestehen die noch?«
»Allerdings«, antwortete der Herr, »aber doch wünschte ich, sie brauchten weniger in Anspruch genommen zu werden.«
»Tretmühle und Armengesetz sind in voller Kraft?«, sagte Scrooge.
»Beide haben alle Hände voll zu tun.«
»So? Nach dem, was Sie zuerst sagten, fürchtete ich schon, es halte sie etwas in ihrem nützlichen Gang auf«, sagte Scrooge. »Ich freue mich, das Gegenteil zu hören.«
»In der Überzeugung, dass sie doch wohl kaum imstande sind, der Seele oder dem Leib der Armen christliche Stärkung zu geben«, entgegnete der Herr, »sind einige von uns zur Veranstaltung einer Sammlung zusammengetreten, um für die Armen Nahrungsmittel und Feuerung anzuschaffen. Und wir wählen diese Zeit, weil sie vor allen anderen eine Zeit ist, da der Mangel am bittersten gefühlt wird und nur der Reiche sich freut. Welche Summe darf ich für Sie aufschreiben?«
»Nichts«, antwortete Scrooge.
»Sie wünschen ungenannt zu bleiben?«
»Ich wünsche, dass man mich in Ruhe lässt«, sagte Scrooge. »Da Sie mich fragen, meine Herren, was ich wünsche, so ist eben dies meine Antwort. Ich freue mich selbst nicht zu Weihnachten und habe nicht die Mittel, mit meinem Geld Faulenzern Freude zu machen. Ich trage meinen Teil zu den Anstalten bei, die ich genannt habe; sie kosten genug, und wem es schlecht geht, der mag dorthin gehen!«
»Viele können nicht hingehen, und viele würden eher sterben.«
»Wenn sie eher sterben würden«, sagte Scrooge, »so wäre es gut, wenn sie es täten und die überflüssige Bevölkerung dadurch verminderten. Übrigens, Sie entschuldigen, ich weiß nichts davon.«
»Aber Sie könnten es wissen«, bemerkte der Herr.
»Es kümmert mich nichts«, antwortete Scrooge. »Es genügt, wenn ein Mann sein eigenes Geschäft versteht und sich nicht in das anderer Leute mischt. Das meinige nimmt meine ganze Zeit in Anspruch. Guten Abend, meine Herren!«
Jeder Versuch zwecklos
Da sie deutlich einsahen, wie vergeblich weitere Versuche sein würden, zogen sich die Herren zurück. Scrooge setzte sich wieder an die Arbeit mit einer erhöhten Meinung von sich selbst und in einer besseren Laune als gewöhnlich.
Nebel und Dunkelheit hatten inzwischen so zugenommen, dass die Leute mit brennenden Fackeln herumliefen, um den Wagen vorzuleuchten. Der alte Kirchturm, dessen brummende alte Glocke sonst unverwandt aus einem alten gotischen Fenster in der Mauer listig auf Scrooge herabsah, wurde unsichtbar in den Wolken und schlug die Stunden und Viertel mit einem zitternden Nachklang, als wenn in dem erfrorenen Kopfe oben die Zähne klapperten.
Die Kälte wurde immer schneidender. In der Hauptstraße an der Ecke der Sackgasse wurden die Gasleitungen ausgebessert, und die Arbeiter hatten ein großes Feuer in einer Kohlenpfanne angezündet. Darum herum drängten sich einige zerlumpte Männer und Knaben, die sich über den Flammen behaglich blinzelnd die Hände wärmten. Aus der eisernen Pumpe, sich selbst überlassen, floss ungehindert Wasser aus, aber bald war es zu Eis erstarrt. Der Lichtschimmer der Läden, in deren Fenstern Stechpalmenzweige und Beeren in der Lampenwärme knisterten, rötete die bleichen Gesichter der Vorübergehenden. Die Gewölbe der Geflügel- und Materialwarenhändler sahen aus wie ein glänzendes, fröhliches Märchenland, und es schien fast unmöglich, damit den Gedanken an eine so langweilige Sache wie Kauf und Verkauf zu verbinden. Der Lord Mayor gab in den inneren Gemächern des Mansion House seinen fünfzig Köchen und Kellermeistern Befehl, Weihnachten zu feiern, wie es eines Lord Mayors würdig ist, und selbst der kleine Schneider, den er am Montag vorher wegen Trunkenheit und blutrünstiger Äußerungen in der Öffentlichkeit mit fünf Shilling gestraft hatte, rührte den Pudding für morgen in seinem Dachkämmerchen, während seine magere Frau mit dem Säugling auf dem Arm wegging, um das Roastbeef zu kaufen.
Immer nebliger und kälter wurde es, durchdringend, schneidend kalt. Wenn der gute, heilige Dunstan die Nase des Gottseibeiuns nur mit einem Hauch von diesem Wetter angefasst hätte, anstatt seine gewöhnlichen Waffen zu gebrauchen, dann hätte der wohl recht gebrüllt. Der Inhaber einer kleinen, jungen Nase, an der die hungrige Kälte biss und nagte, wie Hunde an einem Knochen, legte sich an Scrooges Schlüsselloch, um ihn mit einem Weihnachtsliede zu erfreuen. Aber beim ersten Ton des Liedes ergriff Scrooge das Lineal mit einer solchen Heftigkeit, dass der Sänger voll Schrecken entfloh und das Schlüsselloch dem Nebel und dem noch verwandteren Frost überließ.
Endlich kam die Feierabendstunde. Unwillig stieg Scrooge von seinem Sessel und gab dadurch dem harrenden Gehilfen in dem Verlies stillschweigend die Einwilligung zum Aufbruch, worauf dieser sogleich das Licht auslöschte und den Hut aufsetzte.
»Sie wollen morgen den ganzen Tag frei haben, vermute ich«, sagte Scrooge.
»Wenn es Ihnen recht ist, Sir.«
»Es ist mir durchaus nicht recht«, sagte Scrooge, »und es gehört sich auch nicht. Wenn ich Ihnen eine halbe Krone dafür abzöge, würden Sie denken, es geschähe Ihnen Unrecht, nicht wahr?«
Der Gehilfe antwortete mit einem gezwungenen Lächeln.
Lohn fürs Faulenzen
»Und doch«, sagte Scrooge, »denken Sie nicht daran, dass mir Unrecht geschieht, wenn ich einen Tag Lohn bezahle für einen Tag Faulenzen.«
Der Gehilfe merkte an, dass es ja nur einmal im Jahr geschähe.
»Eine armselige Entschuldigung, um an jedem fünfundzwanzigsten Dezember eines Mannes Tasche zu bestehlen«, murrte Scrooge, indem er seinen Überrock bis an das Kinn zuknöpfte. »Aber ich vermute, Sie wollen den ganzen Tag frei haben? Seien Sie wenigstens übermorgen um so früher hier!«
Der Gehilfe versprach es, und Scrooge ging mit einem Brummen fort. Das Kontor war im Nu geschlossen, und der Gehilfe, dem die langen Enden seines weißen Schals um die Beine baumelten, schlitterte zu Ehren des Festes in einer Reihe von Knaben zwanzigmal Cornhill hinunter; dann lief er so schnell wie möglich in seine Wohnung in Camden Town, um dort Blindekuh zu spielen.
Scrooge nahm sein einsames, trübseliges Mahl in seinem gewöhnlichen, einsamen, trübseligen Gasthaus ein, und nachdem er alle Zeitungen gelesen und sich den Rest des Abends mit seinem Bankjournal vertrieben hatte, ging er nach Hause zurück, um zu schlafen. Er wohnte in den Zimmern, die seinem verstorbenen Kompagnon gehört hatten. Es war eine düstere Flucht von Zimmern in einem niedrigen, dunklen Gebäude, das in seinen Hof so ganz und gar nicht hineinpasste, dass man fast hätte glauben mögen, es habe sich, als es noch ein junges Haus war und mit andern Häusern Versteck spielte, dorthin verlaufen und nicht wieder hinausfinden können. Jetzt war es alt und öde, weil niemand dort wohnte als Scrooge und alle andern Örtlichkeiten als Geschäftsräume vermietet waren. Der Hof war so dunkel, dass selbst Scrooge, der dort jeden Pflasterstein kannte, seinen Weg mit den Händen ertasten musste. Der Nebel und der Frost ballten sich so dick und schwer um den schwarzen alten Torweg des Hauses, als hocke der Wettergeist in trübem Sinnen auf der Schwelle.
Nun steht es fest, dass an dem Klopfer der Haustür ganz und gar nichts Besonderes war als seine Größe. Auch steht fest, dass Scrooge ihn jeden Abend und jeden Morgen, seitdem er das Haus bewohnte, gesehen hatte, und dass Scrooge so wenig Phantasie besaß, als irgend jemand in der City von London, mit Einschluss des Stadtrats – wenn das zu sagen erlaubt ist –, und der Zünfte. Man vergesse auch nicht, dass Scrooge, außer heute Nachmittag, keine Sekunde an seinen vor sieben Jahren verstorbenen Kompagnon gedacht hatte. Und dann erkläre mir jemand, warum Scrooge, als er seinen Schlüssel in das Türschloss steckte, in dem Klopfer, ohne dass dieser sich vor seinen Augen verändert hätte, keinen Türklopfer, sondern Marleys Gesicht sah?
Ja, Marleys Gesicht. Es war nicht von so undurchdringlichem Dunkel umgeben, wie die andern Gegenstände im Hof, sondern von einem unheimlichen Licht, wie ein verdorbener Hummer in einem dunklen Keller. Es blickte ihm nicht wild entgegen, oder zürnend, sondern sah Scrooge an, wie ihn Marley gewöhnlich angesehen hatte, die gespenstische Brille auf die gespenstische Stirn hinaufgeschoben. Das Haar stand ihm seltsam zu Berge, wie von Atem oder heißer Luft gesträubt, und obgleich die Augen weit offen standen, waren sie doch ohne jede Bewegung. Dies und die leichenhafte Farbe machten das Gesicht schrecklich, aber diese Schrecklichkeit schien eher etwas dem Gesicht Aufgezwungenes zu sein, als ein Teil seines Ausdruckes.
Und als Scrooge fest auf die Erscheinung blickte, da sah er wieder einen Türklopfer!
Es wäre eine Unwahrheit, zu sagen, er sei nicht erschrocken oder sein Blut habe nicht ein grausiges Gefühl durchzuckt, das ihm seit seiner Kindheit unbekannt geblieben war. Aber er riss sich mit Gewalt zusammen, fasste mit der Hand abermals nach dem Schlüssel, drehte ihn um, trat in das Haus und zündete sein Licht an.
Und doch zögerte er einen Augenblick, bevor er die Tür schloss, und spähte erst vorsichtig dahinter, als fürchte er wirklich, mit dem Anblick von Marleys Zopf erschreckt zu werden. Aber hinter der Tür war nichts, als die Schrauben, die den Klopfer festhielten, und so sagte er: »Bah, bah«, und warf sie hinter sich ins Schloss.
Der Schall klang wie ein Donner durch das Haus. Jedes Zimmer oben und jedes Fass in des Weinhändlers Keller unten schien mit seinem besonderen Echo zu antworten. Doch Scrooge war nicht der Mann, der sich durch Echos erschrecken ließ. Er schloss die Tür, ging über den Hausflur und die Treppe hinauf, und zwar langsam, langsam und beim Hinaufgehen das Licht heller machend.
Man mag behaupten, dass es sich mit einem Sechsspänner eine stattliche alte Treppenflucht hinauf – oder mitten durch ein neues Parlamentsdekret hindurchsausen lasse; ich sage aber, dass man mit einem Leichenwagen, und zwar der Quere nach, mit der Deichsel nach der Wand und mit der Tür nach dem Geländer zu, diese Treppe hinaufgekommen wäre, und zwar ganz bequem. Und das ist vielleicht der Grund, warum Scrooge glaubte, er sähe einen Leichenwagen vor sich hinaufdampfen. Ein halbes Dutzend Gaslampen von der Straße aus hätten den Eingang nicht hell genug gemacht, und so kann man sich denken, dass es bei Scrooges kleinem Talglicht ziemlich dunkel blieb.
Scrooge aber ging hinauf und kümmerte sich keinen Pfifferling um all das. Dunkelheit ist billig, und das Billige liebte Scrooge. Aber ehe er seine schwere Tür zumachte, ging er durch die Zimmer, um zu sehen, ob alles in Ordnung sei. Er erinnerte sich des Gesichts noch gerade genug, um das zu wünschen.
Wohnzimmer, Schlafzimmer, Rumpelkammer, alles war, wie es sein sollte. Niemand unter dem Tisch, niemand unter dem Sofa; ein kleines Feuer auf dem Rost, Löffel und Teller bereit und das kleine Töpfchen Hafersuppe (Scrooge hatte den Schnupfen) auf dem Feuer. Niemand unter dem Bett, niemand im Alkoven, niemand in seinem Schlafrock, der auf eine ganz verdächtige Weise an der Wand hing. Die Rumpelkammer wie gewöhnlich. Ein alter Kaminschirm, alte Schuhe, zwei Fischkörbe, ein dreibeiniger Waschtisch und ein Schüreisen.
Vollkommen zufriedengestellt, machte er die Tür zu, schloss sich ein und schob noch den Riegel vor, was sonst nicht seine Gewohnheit war. So gegen Überraschung sichergestellt, legte er seine Halsbinde ab, zog seinen Schlafrock und die Pantoffeln an, setzte die Nachtmütze auf und nahm dann vor dem Feuer Platz, um seine Hafersuppe zu essen.
Es war wirklich ein sehr kleines Feuer, und in einer so kalten Nacht so gut wie gar keines. Er musste sich dicht daran setzen und sich darüber hinbeugen, um das geringste Wärmegefühl von dieser Handvoll Kohlen zu erhaschen. Der Kamin war vor langen Jahren von einem holländischen Kaufmann gebaut worden und ringsum mit seltsamen holländischen Fliesen mit Bildern aus der biblischen Geschichte belegt. Da sah man Kain und Abel, Pharaos Töchter, die Königin von Saba, Engel durch die Luft auf Wolken gleich Federbetten herabschwebend, Abraham, Belsazar, Apostel auf Butterschiffen, die in See stachen, Hunderte von Figuren, um seine Gedanken zu beschäftigen, und doch kam das Gesicht Marleys wie der Stab des alten Propheten und verschlang alles andere. Wenn jede glänzende Fliese weiß gewesen wäre und die Macht gehabt hätte, aus den vereinzelten Fragmenten seiner Gedanken ein Bild auf ihre Fläche zu zaubern, auf jeder wäre ein Abbild von des alten Marleys Gesicht erschienen.
»Dummes Zeug!« brummte Scrooge und schritt durch das Zimmer.
Nachdem er einige Male auf und ab gegangen war, setzte er sich wieder. Als er den Kopf in den Stuhl zurücklegte, fiel sein Auge wie durch Zufall auf eine Klingel, eine alte, nicht mehr gebrauchte Klingel, die zu einem jetzt vergessenen Zwecke mit einem Zimmer im obersten Stockwerk des Hauses in Verbindung stand. Zu seinem großen Erstaunen und mit einem seltsamen, unerklärlichen Schauer sah er, wie die Klingel sich zu bewegen begann: erst so wenig, dass sie kaum einen Ton von sich gab, aber bald schellte sie laut und mit ihr jede andre Klingel des Hauses.
Das mochte eine halbe Minute gedauert haben, oder eine ganze, aber es kam ihm vor wie eine Stunde. Die Klingeln hörten gleichzeitig auf, wie sie gleichzeitig angefangen hatten. Dann vernahm man ein Rasseln tief unten, als ob jemand eine schwere Kette über die Fässer in des Weinhändlers Keller schleppe. Jetzt erinnerte sich Scrooge gehört zu haben, dass Gespenster gerne mit Ketten rasseln.
Ein schauriger Besucher
Die Kellertür flog mit einem dumpf dröhnenden Knall auf, und dann hörte er das Rasseln viel lauter auf dem Hausflur unten, dann wie es die Treppe herauf und dann wie es gerade auf seine Tür zukam.
»Ist doch dummes Zeug«, sagte Scrooge. »Ich glaube nicht dran.«
Aber er wechselte doch die Farbe, als es nun ohne zu verweilen, durch die schwere Tür und in das Zimmer kam. Als es hereintrat, flammte das sterbende Feuer auf, als riefe es: »Ich kenne ihn, Marleys Geist!«, und die Glut sank wieder zusammen.
Dasselbe Gesicht, ganz dasselbe. Marley mit seinem Zopf, seiner üblichen Weste, den engen Hosen und hohen Stiefeln, deren Troddeln in die Höhe standen, wie sein Zopf, und ebenso seine Rockschöße und das Haar auf seinem Kopf. Die Kette, die er hinter sich herschleppte, war um seinen Leib geschlungen. Sie war lang, ringelte sich wie ein Schwanz und war (Scrooge betrachtete sie sehr genau) aus Geldkassen, Schlüsseln, Schlössern, Hauptbüchern, Kontrakten und schweren Börsen aus Stahl zusammengesetzt. Sein Leib war so durchsichtig, dass Scrooge durch die Weste hindurch die zwei Knöpfe hinten an seinem Rock sehen konnte.
Scrooge hatte oft sagen hören, Marley habe kein Herz, aber erst jetzt glaubte er es.
Nein, er glaubte es selbst jetzt noch nicht. Obgleich er das Gespenst durch und durch und vor sich stehen sah, obgleich er den eisigen Schauer fühlte, den ihm die totenstarren Augen über den Rücken laufen ließen, und selbst den Stoff des Tuches erkannte, das ihm um Kopf und Kinn gebunden war und das er früher nicht bemerkt hatte, war er dennoch ungläubig und sträubte sich gegen das Zeugnis seiner Sinne.
»Nun«, sagte Scrooge, scharf und kalt wie gewöhnlich, »was wollt Ihr?«
»Viel!« Das war Marleys Stimme.
»Wer seid Ihr?«
»Fragt mich, wer ich war.«
»Nun, wer wart Ihr?« fragte Scrooge lauter. »Für einen Schatten seid Ihr ja sonderbar.«
»Als ich lebte, war ich Euer Kompagnon, Jacob Marley.«
»Könnt Ihr Euch setzen?« fragte Scrooge und sah ihn zweifelnd an.
»Ja, kann ich.«
»So tut’s.«
Scrooge fragte nur, weil er nicht wusste, ob sich ein so durchsichtiger Geist setzen könne, und er fühlte die Notwendigkeit einer unangenehmen Erklärung, wenn es ihm nicht möglich wäre. Aber der Geist setzte sich auf der anderen Seite des Kamins nieder, als sei er es so gewohnt.
»Ihr glaubt nicht an mich?« fragte der Geist.
»Nein«, sagte Scrooge.
»Welches Zeugnis, außer dem Eurer Sinne, wollt Ihr von meiner Wirklichkeit haben?«
»Ich weiß nicht«, meinte Scrooge.
»Warum glaubt Ihr Euren Sinnen nicht?«
»Weil sie die geringste Kleinigkeit stört«, entgegnete Scrooge. »Eine kleine Unpässlichkeit des Magens macht sie zu Lügnern. Ihr könnt ein unverdautes Stück Rindfleisch, ein Käserindchen, ein Stückchen schlechter Kartoffeln sein. Wer Ihr auch sein möget, Ihr habt mehr vom Unterleib, als von der Unterwelt an Euch.«
Es war nicht eben Scrooges Gewohnheit, Witze zu machen, auch fühlte er eben jetzt keine besondere Lust dazu. Die Wahrheit ist, dass er sich bestrebte lustig zu sein, um sich zu erleichtern und sein Entsetzen niederzuhalten; denn die Stimme des Geistes ließ ihn bis ins Mark erzittern.
Diesen starren, toten Augen nur einen Augenblick schweigend gegenüberzusitzen, wäre teuflisch gewesen, das fühlte Scrooge wohl. Auch dass das Gespenst seine eigene höllische Atmosphäre hatte, war grauenerregend. Scrooge fühlte sie nicht selbst, aber doch musste es so sein; denn obgleich das Gespenst ganz regungslos dasaß, bewegten sich sein Haar, seine Rockschöße und seine Stiefeltroddeln wie von dem heißen Dunst eines Ofens.
»Ihr seht diesen Zahnstocher«, sprach Scrooge, seinen Angriff aus dem eben angeführten Grunde sogleich aufs neue beginnend und von dem Wunsch beseelt, den starren, eisigen Blick des Gespenstes, wenn auch nur für einen Augenblick, von sich abzulenken.
»Ja«, antwortete der Geist.
»Ihr schaut ihn ja nicht an«, sagte Scrooge.
»Aber ich sehe ihn trotzdem«, sprach das Gespenst.
»Gut denn«, antwortete Scrooge. »Ich brauche ihn nur hinunterzuschlucken und mein ganzes übriges Leben hindurch verfolgt mich eine Legion Kobolde, die ich selbst erschaffen habe. Dummes Zeug, sag ich, dummes Zeug!«
Bei diesen Worten stieß das Gespenst einen markerschütternden Schrei aus und ließ seine Kette so grauenerregend und fürchterlich klirren, dass sich Scrooge fest an seinen Stuhl halten musste, um nicht ohnmächtig herunterzufallen. Aber wie wuchs sein Entsetzen erst, als das Gespenst das Tuch vom Kopfe nahm, als wär es ihm zu warm im Zimmer, so dass der Unterkiefer auf die Brust herunterklappte.
Scrooge fiel auf die Knie nieder und schlug die Hände vors Gesicht.
»Gnade!« rief er. »Schreckliche Erscheinung, warum verfolgst du mich?«
»Mensch mit dem irdisch gesinnten Verstand«, entgegnete der Geist, »glaubst du an mich oder nicht?«
»Ich glaube«, sagte Scrooge, »ich muss glauben. Aber warum wandeln Geister auf Erden, und warum kommen sie zu mir?«
»Von jedem Menschen wird verlangt, dass seine Seele unter seinen Mitmenschen wandle, in die Ferne und in die Nähe«, antwortete der Geist; »und wenn die Seele dies während des Lebens nicht tut, so ist sie verdammt, es nach dem Tode zu tun. Man ist verdammt, durch die Welt zu wandern – ach, wehe mir! – und zu sehen, was man nicht teilen kann, was man aber auf Erden hätte teilen können und zu seinem Glück anwenden sollen.«
Und wieder stieß das Gespenst einen Schrei aus, schüttelte seine Ketten und rang die schattenhaften Hände.
Dasselbe Gesicht, ganz dasselbe. Marley mit seinem Zopf, seiner üblichen Weste, den engen Hosen und hohen Stiefeln, deren Troddeln in die Höhe standen, wie sein Zopf, und ebenso seine Rockschöße und das Haar auf seinem Kopf. Die Kette, die er hinter sich herschleppte, war um seinen Leib geschlungen. Sie war lang, ringelte sich wie ein Schwanz und war (Scrooge betrachtete sie sehr genau) aus Geldkassen, Schlüsseln, Schlössern, Hauptbüchern, Kontrakten und schweren Börsen aus Stahl zusammengesetzt. Sein Leib war so durchsichtig, dass Scrooge durch die Weste hindurch die zwei Knöpfe hinten an seinem Rock sehen konnte.
Scrooge hatte oft sagen hören, Marley habe kein Herz, aber erst jetzt glaubte er es.
Nein, er glaubte es selbst jetzt noch nicht. Obgleich er das Gespenst durch und durch und vor sich stehen sah, obgleich er den eisigen Schauer fühlte, den ihm die totenstarren Augen über den Rücken laufen ließen, und selbst den Stoff des Tuches erkannte, das ihm um Kopf und Kinn gebunden war und das er früher nicht bemerkt hatte, war er dennoch ungläubig und sträubte sich gegen das Zeugnis seiner Sinne.
»Nun«, sagte Scrooge, scharf und kalt wie gewöhnlich, »was wollt Ihr?«
»Viel!« Das war Marleys Stimme.
»Wer seid Ihr?«
»Fragt mich, wer ich war.«
»Nun, wer wart Ihr?« fragte Scrooge lauter. »Für einen Schatten seid Ihr ja sonderbar.«
»Als ich lebte, war ich Euer Kompagnon, Jacob Marley.«
»Könnt Ihr Euch setzen?« fragte Scrooge und sah ihn zweifelnd an.
»Ja, kann ich.«
»So tut’s.«
Scrooge fragte nur, weil er nicht wusste, ob sich ein so durchsichtiger Geist setzen könne, und er fühlte die Notwendigkeit einer unangenehmen Erklärung, wenn es ihm nicht möglich wäre. Aber der Geist setzte sich auf der anderen Seite des Kamins nieder, als sei er es so gewohnt.
»Ihr glaubt nicht an mich?« fragte der Geist.
»Nein«, sagte Scrooge.
»Welches Zeugnis, außer dem Eurer Sinne, wollt Ihr von meiner Wirklichkeit haben?«
»Ich weiß nicht«, meinte Scrooge.
»Warum glaubt Ihr Euren Sinnen nicht?«
»Weil sie die geringste Kleinigkeit stört«, entgegnete Scrooge. »Eine kleine Unpässlichkeit des Magens macht sie zu Lügnern. Ihr könnt ein unverdautes Stück Rindfleisch, ein Käserindchen, ein Stückchen schlechter Kartoffeln sein. Wer Ihr auch sein möget, Ihr habt mehr vom Unterleib, als von der Unterwelt an Euch.«
Es war nicht eben Scrooges Gewohnheit, Witze zu machen, auch fühlte er eben jetzt keine besondere Lust dazu. Die Wahrheit ist, dass er sich bestrebte lustig zu sein, um sich zu erleichtern und sein Entsetzen niederzuhalten; denn die Stimme des Geistes ließ ihn bis ins Mark erzittern.
Diesen starren, toten Augen nur einen Augenblick schweigend gegenüberzusitzen, wäre teuflisch gewesen, das fühlte Scrooge wohl. Auch dass das Gespenst seine eigene höllische Atmosphäre hatte, war grauenerregend. Scrooge fühlte sie nicht selbst, aber doch musste es so sein; denn obgleich das Gespenst ganz regungslos dasaß, bewegten sich sein Haar, seine Rockschöße und seine Stiefeltroddeln wie von dem heißen Dunst eines Ofens.
»Ihr seht diesen Zahnstocher«, sprach Scrooge, seinen Angriff aus dem eben angeführten Grunde sogleich aufs neue beginnend und von dem Wunsch beseelt, den starren, eisigen Blick des Gespenstes, wenn auch nur für einen Augenblick, von sich abzulenken.
»Ja«, antwortete der Geist.
»Ihr schaut ihn ja nicht an«, sagte Scrooge.
»Aber ich sehe ihn trotzdem«, sprach das Gespenst.
»Gut denn«, antwortete Scrooge. »Ich brauche ihn nur hinunterzuschlucken und mein ganzes übriges Leben hindurch verfolgt mich eine Legion Kobolde, die ich selbst erschaffen habe. Dummes Zeug, sag ich, dummes Zeug!«
Bei diesen Worten stieß das Gespenst einen markerschütternden Schrei aus und ließ seine Kette so grauenerregend und fürchterlich klirren, dass sich Scrooge fest an seinen Stuhl halten musste, um nicht ohnmächtig herunterzufallen. Aber wie wuchs sein Entsetzen erst, als das Gespenst das Tuch vom Kopfe nahm, als wär es ihm zu warm im Zimmer, so dass der Unterkiefer auf die Brust herunterklappte.
Scrooge fiel auf die Knie nieder und schlug die Hände vors Gesicht.
»Gnade!« rief er. »Schreckliche Erscheinung, warum verfolgst du mich?«
»Mensch mit dem irdisch gesinnten Verstand«, entgegnete der Geist, »glaubst du an mich oder nicht?«
»Ich glaube«, sagte Scrooge, »ich muss glauben. Aber warum wandeln Geister auf Erden, und warum kommen sie zu mir?«
»Von jedem Menschen wird verlangt, dass seine Seele unter seinen Mitmenschen wandle, in die Ferne und in die Nähe«, antwortete der Geist; »und wenn die Seele dies während des Lebens nicht tut, so ist sie verdammt, es nach dem Tode zu tun. Man ist verdammt, durch die Welt zu wandern – ach, wehe mir! – und zu sehen, was man nicht teilen kann, was man aber auf Erden hätte teilen können und zu seinem Glück anwenden sollen.«
Und wieder stieß das Gespenst einen Schrei aus, schüttelte seine Ketten und rang die schattenhaften Hände.
Die Ketten der Vergangenheit
»Du bist gefesselt«, sagte Scrooge zitternd. »Sage mir, warum?«
»Ich trage die Kette, die ich während meines Lebens geschmiedet habe«, sprach der Geist. »Ich schmiedete sie Glied für Glied und Elle für Elle; mit meinem eigenen freien Willen lud ich sie mir auf, und mit meinem eigenen freien Willen trug ich sie. Ihre Glieder kommen dir seltsam vor?«
Scrooge zitterte mehr und mehr.
»Oder willst du wissen«, fuhr der Geist fort, »wie schwer und wie lang die Kette ist, die du selber trägst? Sie war gerade so lang und so schwer wie diese hier, vor sieben Weihnachten. Seitdem hast du daran gearbeitet! Es ist eine schwere Kette.«
Scrooge sah auf den Boden hinab, in der Erwartung, sich von fünfzig oder sechzig Ellen Eisenkette umschlungen zu sehen; aber er sah nichts.
»Jacob«, sagte er flehend. »Jacob Marley, sage mir mehr. Sprich mir Trost zu, Jacob.«
»Ich habe keinen Trost zu geben«, antwortete der Geist. »Er kommt von anderen Regionen, Ebenezer Scrooge, und wird von anderen Boten zu anderen Menschen gebracht. Auch kann ich dir nicht sagen, was ich dir sagen möchte. Ein klein wenig mehr ist alles, was mir erlaubt ist. Nirgends kann ich rasten oder ruhen. Mein Geist ging nie über unser Kontor hinaus – merke wohl auf – im Leben blieb mein Geist immer in den engen Grenzen unserer schachernden Höhle; und weite Reisen liegen noch vor mir.«
Scrooge hatte die Gewohnheit, wenn er nachdenklich wurde, die Hand in die Hosentasche zu stecken.
Über das nachsinnend, was der Geist sagte, tat er es auch jetzt, aber ohne die Augen zu erheben oder vom Stuhl aufzustehen.
»Du musst dir aber viel Zeit gelassen haben, Jacob«, bemerkte er im Ton eines Geschäftsmannes, obgleich mit viel Demut und Ehrerbietung.
»Viel Zeit!« wiederholte der Geist.
»Sieben Jahre tot«, sagte sinnend Scrooge. »Und die ganze Zeit über gereist.«
»Die ganze Zeit«, sagte der Geist. »Ohne Frieden, ohne Ruhe und mit den Qualen ewiger Reue.«
»Du reisest schnell«, sagte Scrooge.
»Auf den Schwingen des Windes«, antwortete der Geist.
»Du hättest eine große Strecke in sieben Jahren bereisen können«, sagte Scrooge.
Als der Geist dies hörte, stieß er wieder einen Schrei aus und klirrte so grässlich mit seiner Kette durch das Grabesschweigen der Nacht, dass ihn die Polizei mit vollem Recht wegen Ruhestörung hätte bestrafen können.
»Oh, gefangen und gefesselt«, rief das Gespenst, »nicht zu wissen, dass Zeitalter von unaufhörlicher Arbeit unsterblicher Geschöpfe vergehen, ehe sich das Gute, dessen die Erde fähig ist, entwickeln kann. Nicht zu wissen, dass jeder christliche Geist dieses Erdenleben zu kurz finden wird, um alles Nützliche zu tun, und wenn er auch in einem noch so kleinen Kreise wirkt. Aber ich wusste es nicht, ach, ich wusste es nicht!«
»Aber du warst immer ein guter Geschäftsmann, Jacob«, stotterte Scrooge zitternd, der jetzt anfing, das Schicksal des Geistes auf sich selbst zu beziehen.
»Geschäft!« rief das Gespenst, seine Hände abermals ringend. »Der Mensch wäre mein Geschäft gewesen! Das allgemeine Wohl wäre mein Geschäft gewesen! Barmherzigkeit, Versöhnlichkeit und Liebe, alles das wäre mein Geschäft gewesen! Alles, was ich in meinem Gewerbe tat, war nur ein kleiner Tropfen Wasser im weiten Ozean meines Geschäfts!«
Er hielt seine Kette vor sich hin, als ob sie die Ursache seines nutzlosen Schmerzes gewesen wäre, und warf sie abermals dumpf dröhnend nieder.
»Zu dieser Zeit des schwindenden Jahres«, sagte das Gespenst, »leide ich am meisten. Warum ging ich mit zur Erde gehefteten Augen durch die Schar meiner Mitmenschen und wendete meinen Blick nie zu dem gesegneten Stern empor, der die Weisen zur Wohnung der Armut führte? Gab es keine arme Hütte, wohin mich sein Licht hätte leiten können?«
Scrooge hörte mit Entsetzen das Gespenst so reden und fing an gewaltig zu zittern.
»Höre mich«, mahnte der Geist. »Meine Zeit ist halb vorbei.«
»Ich höre«, hauchte Scrooge. »Aber mach es gnädig mit mir! Werde nicht hitzig, Jacob, ich bitte dich.«
»Wie es kommt, dass ich in einer dir sichtbaren Gestalt vor dich treten kann, das weiß ich nicht. Viele, viele Tage habe ich unsichtbar neben dir gesessen.«
Das war kein angenehmer Gedanke. Scrooge schauderte und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Es ist kein leichter Teil meiner Sühne«, fuhr der Geist fort. »Heute Nacht komme ich zu dir, um dich zu warnen, da du noch die Möglichkeit hast, meinem Schicksal zu entgehen. Eine Möglichkeit und eine Hoffnung, die du mir zu verdanken hast.«
»Du bist immer mein guter Freund gewesen«, murmelte Scrooge. »Ich danke dir.«
Die Ankündigung
»Drei Geister«, fuhr das Gespenst fort, »werden zu dir kommen.« Bei diesen Worten wurde Scrooges Angesicht fast so unglücklich wie das des Gespenstes.
»Ist das die Möglichkeit und die Hoffnung, die du genannt hast, Jacob?« fragte er mit bebender Stimme.
»Ja.«
»Ich – ich möchte lieber nicht«, sagte Scrooge.
»Ohne ihr Kommen«, sagte der Geist, »kannst du nicht hoffen, den Pfad zu vermeiden, dem ich nun folgen muss. Erwarte den ersten morgen früh, wenn die Glocke eins schlägt.«
»Könnte ich sie nicht alle miteinander hinter mich bringen?« meinte Scrooge.
»Erwarte den zweiten in der nächsten Nacht um dieselbe Stunde. Den dritten in der darauffolgenden Nacht, wenn der letzte Schlag der zwölften Stunde verklungen ist. Schau mich an, denn du siehst mich nicht wieder; und schau mich an, damit du dich um deinetwillen an das erinnerst, was zwischen uns vorgefallen ist.«
Als es diese Worte gesprochen hatte, nahm das Gespenst das Tuch vom Tisch und band es sich wieder um den Kopf. Scrooge merkte es am Geräusch der Zähne, als die Kinnladen zusammenklappten. Er wagte, die Augen zu erheben, und sah seinen übernatürlichen Besuch vor sich stehen, die Augen noch starr auf ihn geheftet und die Kette um Leib und Arme gewunden.
Die Erscheinung entfernte sich rückwärtsgehend, und bei jedem Schritt öffnete sich das Fenster ein wenig, so dass es weit offen stand, als das Gespenst es erreicht hatte. Es winkte Scrooge, näher zu kommen, und er tat es. Als sie noch zwei Schritte voneinander entfernt waren, hob Marleys Geist die Hand und gebot ihm, nicht näher zu kommen. Scrooge stand still. Mehr aus Überraschung und Furcht, als aus Gehorsam, denn wie sich die gespenstige Hand erhob, hörte er verwirrte Klänge durch die Luft schwirren und unzusammenhängende Töne der Klage und des Leides, unsäglich schmerzlich und reuevoll. Das Gespenst hörte eine Weile zu und stimmte dann in das Klagelied ein; dann schwebte es in die dunkle, kalte Nacht hinaus.
Scrooge trat an das Fenster, von Neugier fast zur Verzweiflung getrieben. Er sah hinaus.
Die Luft war mit Schatten angefüllt, die in ruheloser Hast klagend hin und her schwebten. Jeder trug eine Kette wie Marleys Geist; einige wenige waren zusammengeschmiedet (wahrscheinlich schlechte Minister), keiner war ganz fessellos. Viele waren Scrooge während ihres Lebens bekannt gewesen. Ganz genau hatte er einen alten Geist in einer weißen Weste gekannt, der einen ungeheuren eisernen Geldkasten hinter sich herschleppte und jämmerlich schrie, einer armen, alten Frau mit einem Kind nicht beistehen zu können, die unten auf einer Türschwelle saß. Man sah es deutlich, ihre Pein war, sich umsonst bestreben zu müssen, den Menschen Gutes zu tun und die Macht dazu auf immer verloren zu haben.
Ob diese Wesen in dem Nebel zergingen oder ob sie der Nebel einhüllte, wusste er nicht zu sagen. Aber sie und ihre Gespensterstimmen vergingen gleichzeitig, und die Nacht wurde wieder so, wie sie auf seinem Nachhauseweg gewesen war.
Scrooge schloss das Fenster und untersuchte die Tür, durch die das Gespenst eingetreten war. Sie war noch verschlossen und verriegelt wie vorher. Er versuchte zu sagen: »Dummes Zeug«, blieb aber bei der ersten Silbe stecken, und da er von der inneren Bewegung, oder von den Anstrengungen des Tages, oder von seinem Einblick in die unsichtbare Welt, oder von der Unterhaltung mit dem Gespenst, oder der späten Stunde sehr erschöpft war, ging er sogleich ins Bett, ohne sich auszuziehen, und sank sofort in Schlaf.
Autor: Charles Dickens – Übersetzer: Richard Zoozmann – überarbeitete Fassung
1. Strophe: Marleys Geist
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Unser Filmtipp für die Weihnachtszeit:
„Humbug!“ Soeben von seiner Amerika-Tour zurückgekehrt, jagt für den 31-jährigen Autoren Charles Dickens leider ein literarischer Flop den nächsten. Obwohl er bereits beachtliche Erfolge für sich verbuchen konnte und es auch familiär nicht besser laufen könnte, möchte sich der nächste „große Wurf“ so recht nicht einstellen. Außerdem drückt der Schuh auch finanziell, da man sich das Leben eines britischen Gentlemans erst einmal leisten können muss. Schließlich kommt doch die Inspiration zu einer neuen Story, doch außer dem Namen „Eine Weihnachtsgeschichte“ und ein paar vager Ideen will sich so recht nichts einstellen. Hilfe erhält er ausgerechnet von seiner Hauptfigur, Ebenezer Scrooge, die sich plötzlich in seinem Arbeitszimmer materialisiert… (NEW KSM)
Charles Dickens: Der Mann, der Weihnachten erfand – Ein zeitloser Film mit Potenzial zum Weihnachts-Klassiker. Beruhend auf dem Leben und Wirken von Charles Dickens, einem der größten Literaten aller Zeiten.
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